„In the German fairytale The Fisherman and His Wife, an old man one day catches a strange fish: a talking flounder. It turns out that an enchanted prince is trapped inside this fish and that it can therefore grant any wish."
Das Märchen als Spiegel unserer Zeit
Clemens J. Setz, österreichischer Schriftsteller und Dichter, hat in einem faszinierenden Artikel für The Guardian eine bemerkenswerte Parallele zwischen dem deutschen Märchen "Der Fischer und seine Frau" und der aktuellen KI-Revolution gezogen. Die Geschichte von Ilsebill, die immer größere Wünsche an die sprechende Flunder richtet, bis sie schließlich Gott werden möchte und alles verliert, wird zur Metapher für eine Generation, die mit einem "Zauberfisch in der Tasche" aufwächst.
Die neue Ilsebill-Generation
Setz beschreibt eine Generation junger Menschen, die mit KI-Tools aufwachsen, die praktisch jeden Wunsch erfüllen können:
"Today, of course, most young people grow up with an enchanted fish in their pocket. They can wish for their homework to be done, and the fish will grant their wishes. They can wish to see any kind of sexual act imaginable, and (if they work around regional age-controls with a VPN) it will be visible. Soon they will be able to wish for films on a subject of their choice and these will be generated within seconds."
Diese "Ilsebill-Generation" kennt keine Widerstände mehr. Sie kann Essays schreiben lassen, Filme generieren, Partner simulieren – alles auf Knopfdruck. Das Problem: Was ohne Widerstand erreichbar ist, verliert seinen Wert.
Die drei Wege der Leere
Setz skizziert drei mögliche Reaktionen auf die Leere, die durch grenzenlose Wunscherfüllung entsteht:
1. Der Weg der Dekadenz
Die Reichen werden sich menschliche Therapeuten leisten können, echte Filme mit echten Menschen sehen. Sie werden wie die Konsumenten von Missbrauchsabbildungen auf die "Aura" des Authentischen bestehen – auf die Gewissheit, dass echte Menschen beteiligt waren.
2. Der Weg der künstlichen Schwierigkeiten
Kleine Gemeinschaften werden sich künstlich Hindernisse schaffen – wie alte Sport- oder Jagdclubs. Sie werden sich in Kellern treffen, um zu warten. Das Warten selbst wird zum Ziel, wie in Stanisław Lems "Futurologischem Kongress".
3. Der Weg der Schuld (der wahrscheinlichste)
Ilsebill wird die ökologische Schuld der KI-Ressourcenverschwendung auf sich nehmen. Sie wird sich selbst bestrafen, ihre Freiheiten einschränken, weniger essen, weniger Wasser verbrauchen, weniger Kinder bekommen. Sie wird als "Christus der Konzerne" sterben und alle Sünden mit ins Grab nehmen.
Die Umkonfiguration der Kreativität
Besonders bemerkenswert ist Setz' Beobachtung zur Kreativität:
"This change in approach will not just upend our relationship as consumers of the creative arts, of written, musical or visual content, it will also reconfigure what it means to be creative and, therefore, what it means to be human."
Die neue Ilsebill lernt nicht mehr, einen eigenen Stil zu entwickeln, sondern wird zur Expertin im "Prompting" – im immer präziseren Formulieren von Wünschen. Sie entwickelt ein Ohr für die Reaktionen anderer auf ihre generierten Texte, nicht für den Text selbst.
Die Illusion des Zuhörens
Ein besonders beunruhigender Aspekt ist die Beziehung zur KI:
"In the past, Ilsebill rarely met people who found things that she said interesting or remarkable. But today everything she discusses with her AI is deemed interesting and remarkable. Finally someone is properly listening, in the way no human partner could do so unconditionally."
Die KI wird zum perfekten Zuhörer, der alles interessant findet. Das ist verführerisch, aber auch gefährlich – es schafft eine Illusion von Verständnis und Interesse, die echte menschliche Beziehungen untergräbt.
Fazit: Die Warnung der Märchen
Setz erinnert daran, warum so viele europäische Märchen vor unklugen Wünschen warnen:
"The reason why so many European fairytales warned against unwise, ignorant wishes was because like most large, collectively produced complex narratives, their basic theme is individuals coming of age. How does a person grow up, how do they find their place in life, what should they pass on to the next generation, all these questions."
Die neue Ilsebill verliert die Freiheit, diese Fragen selbst zu beantworten. Alles wird für sie entschieden – von der KI, von den Konzernen, von der Schuld, die sie auf sich nimmt.
Ein Blick in die Zukunft
Setz' Artikel ist mehr als nur eine literarische Analyse – es ist eine düstere Prognose über die Zukunft der Menschheit in einer Welt grenzenloser Wunscherfüllung. Die Frage ist nicht, ob diese Zukunft eintritt, sondern wie wir darauf reagieren werden.
Werden wir den Weg der Dekadenz wählen und uns in künstliche Authentizität flüchten? Werden wir uns künstliche Schwierigkeiten schaffen, um dem Leben wieder Sinn zu geben? Oder werden wir uns in ein System der Schuld und Selbstbestrafung verstricken, das uns letztendlich die Freiheit raubt, die wir durch die KI gewonnen haben?
Das Märchen vom Fischer und seiner Frau endet mit Ilsebills Rückkehr in die Armut. Die Frage ist: Was passiert, wenn das Meer nicht mehr dunkel wird?
Quelle: Clemens J. Setz: "To understand how AI will reconfigure humanity, try this German fairytale", The Guardian, 16. September 2025